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Welche Revolution könnte es mit dieser Konterrevolution aufnehmen? Welche Revolution wäre in der Lage, nicht nur die grausame Herrschaft zu überwinden, sondern auch ihre erwartbare und erwartbar grausamere Wiederkehr? Mit einem Streich gegen das Alte ist es nicht getan, sie muss es immer zweimal töten. Die Revolution kann Revolution nur sein und bleiben, wenn sie mit der Reaktion rechnet, und noch vor deren Eintreten auf sie zu reagieren beginnt. Die Revolution kann Revolution nur sein und bleiben als (permanente) Konterkonterrevolution. Im Zwang der Entscheidung verdichtet sich die Frage, ob der Bürgerkrieg gewollt oder vorhergesehen wurde, zu einer Nuance. Aber bleibt die Revolution noch Revolution als Konterkonterrevolution, kann sie, unverändert dieselbe, ein zweites Mal auftreten? Oder wird sie sich transformieren, kontaminieren mit Momenten der Konterrevolution? Kann die Revolution nicht siegreich sein nur, indem sie sich der Konterrevolution angleicht, sich in eine ihr ebenbürtige Gewalt verwandelt und, mehr noch, in eine ihr überlegene? Kann die Revolution nicht siegreich sein nur, indem sie die Konterrevolution überholt, sie noch vor deren Eintreffen an Härte und Schnelligkeit, übertrifft?
Haben die Bolschewiki also Recht, wenn sie bereits im April 1918 die hierarchiefreie Rätedemokratie in den Armeen wieder abschaffen? Hat Felix Dserschinski Recht, wenn er für die Tscheka entschlossene Leute sucht, »die wissen, dass es nichts Wirksamers gibt als eine Kugel, um jemanden zum Schweigen zu bringen« (Werth, 82)? Tut die Tscheka nicht gut daran, gegen die mindestens fünftausend ehemaligen Lockspitzel und Geheimagenten des zaristischen Geheimdienstes, der Ochrana, die unenttarnt wichtige revolutionäre Posten einnehmen, eine Kampagne der Entlarvung zu starten (vgl. Serge, 113)? Ist Lenin nicht zuzustimmen, wenn er die Abschaffung der Todesstrafe in Zeiten der Revolution als »einen Irrtum, einen unverzeihlichen Fehler und eine pazifistische Illusion« (Lenin, zit. n. Werth, 83) attackiert? Jenem Opernliebhaber Lenin, der es verweigert, noch in die Oper zu gehen, weil er nicht etwas so Schönes sehen kann, während er etwas so Hässliches tut. Ohne Illusion wollen sie sein, die Revolutionäre, ohne Illusionen und Affekte, durch die sie sich selbst am Siegen hindern könnten. Affekte wie Mitleid, Illusionen wie der einer gerechten Revolution. »Glaubt nicht Genossen«, ruft Dserschinski den Kommunistinnen zu, »dass ich nach einer Art revolutionsadäquaten Gerechtigkeit suche. Wir können mit ›Gerechtigkeit‹ nichts anfangen!« (Werth, 71). Und was hätten sie mit revolutionärer Gerechtigkeit anfangen sollen, wissend, dass die konterrevolutionäre Ungerechtigkeit dieser jeder Zeit ein Ende bereiten können würde? Hatten sie unter den von ihnen nicht gewählten Bedingungen eine andere Wahl als die, sich »Entschiedenheit und Härte« anzutrainieren, Gnadenlosigkeit und Kälte, um als Revolutionäre das durchstehen zu können, was sie als Kommunistinnen nicht durchstehen wollen können?
Ja – sagen die Kronstädterinnen. Sie verhaften fast niemanden, vollstrecken nicht eine einzige Exekution und üben keine Rache. Statt zum Angriff überzugehen, so lange ihnen die Zeit dafür noch bleibt, suchen sie das Gespräch, statt sich strategisch sinnvoller Festungen zu bemächtigen, beharren sie darauf, dass »ein wirklicher Kommunist niemandem seine Ideen aufzwingen soll« (Iswestija Nr.4, Volin, 78). Auf die moralische Kraft der Revolution vertrauen sie und auf die Überzeugungskraft ihrer Argumente, die sie als Radiobotschaften verbreiteten.
Aber während die Kronstädterinnen jedes Flugblatt der Bolschewiki, so verleumderisch es auch gewesen sein mag, in ihrer eigenen Zeitung nachdrucken, verheimlichen die bolschewistischen Medien alle Verlautbarungen Kronstadts und verbreiten stattdessen ganz gezielt die Lüge, es handele sich bei den Revolutionären um weiße Saboteure, deutsche Spione. Auf die Verhaftung zweier kommunistischer Kommissare reagieren die Regierungskommunistinnen, indem sie die Familien der Kronstädterinnen als Geiseln nehmen. Die unter dem Schutz der Parlamentärsflagge stehenden Verhandlungsdelegationen empfangen sie – das mögen sie selbst von den weißen Offizieren gelernt haben (Reed, 258) – mit Kugeln. Und noch die Besiegten, noch die ins nahe Finnland Geflohenen locken sie, Jahre später, mit dem Versprechen einer umfassenden Amnestie wieder nach Russland, nur um sie ohne zu zögern in den Zwangsarbeitslagern verschwinden zu lassen.
Was ließe sich daraus, wenn aus diesem Gemetzel irgendetwas zu lernen wäre, für ein zukünftiges Kronstadt lernen?

Aus "Gestern Morgen" Bini Adamczak
https://www.edition-assemblage.de/buecher/gestern-morgen/

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from Der Zeitstrahl ist zerbrochen, released November 20, 2021
Text von Bini Adamczak

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Geigerzaehler Berlin, Germany

Ganz früher, als in Berlin noch diese seltsame Betonwand herumstand, wurde in Budyšin ein Kind geboren, das früh die musikpädagogischen Errungenschaften der Deutschen Demokratischen Republik geniessen und Geige spielen wollte, durfte, sollte, musste.

Die Betonwand fiel um. Ich schnitt mir einen Iro...

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